Die Fäden zwischen Literatur und Politik
16.05.2023Shakespeare und Reiseliteratur, Verbindungslinien zwischen Literatur und Politik: Diese und andere Schwerpunkte setzt Kirsten Sandrock als neue Professorin für englische Literaturwissenschaft.
König Charles III hielt Ende März 2023 vor dem deutschen Bundestag eine viel beachtete Rede. Darin betonte er die besondere Bedeutung der Beziehungen zwischen England und Deutschland. In diesem Zusammenhang ging es auch um Literatur, wie Charles in deutscher Sprache erwähnte: „Deutsch war die erste Sprache, in die Shakespeare übersetzt wurde. Und die erste Shakespeare-Gesellschaft der Welt wurde 1864 nicht etwa in England gegründet – sondern in Weimar.“
Professorin Kirsten Sandrock, die neue Leiterin des Lehrstuhls für englische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU), spielt in dieser altehrwürdigen Institution seit kurzem eine herausgehobene Rolle: Sie wurde im April 2023 zur Vizepräsidentin der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft gewählt.
Die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft hat rund 2.000 Mitglieder und fördert die Auseinandersetzung mit Shakespeares Werken in allen Aspekten. Dabei ist ihr die Zusammenarbeit mit Wissenschaft, Schule und künstlerischer Praxis wichtig.
Studierende auf Shakespeares‘ Spuren
Ein Schwerpunkt von Kirsten Sandrocks wissenschaftlicher Arbeit liegt auf Shakespeare, aber auch auf anderen Autorinnen und Autoren der Frühen Neuzeit und der Renaissance. An der JMU plant die neue Professorin zum Beispiel ein Seminar über die Rolle von Frauen und Gender bei Shakespeare. Ein weiterer Forschungsaspekt umfasst die Rolle der Reiseliteratur in Shakespeares Werken und die Wechselwirkungen zwischen Drama und frühneuzeitlichen Narrativen über den Atlantik.
Voraussichtlich ab 2024 möchte sie regelmäßig eine Exkursion für Studierende anbieten, die zu wichtigen Wirkungsstätten des Schriftstellers führt – zum Globe Theatre nach London und nach Stratford-upon-Avon, dem Geburtsort Shakespeares und ebenfalls Spielort der Royal Shakespeare Company.
Missionierung in britischen Kolonien
Ein weiterer Schwerpunkt der Professorin liegt auf der kolonialen und postkolonialen anglophonen Literatur ab 1600. „In den britischen Kolonien wurde mit Hilfe von Shakespeare nicht nur Englisch gelehrt“, erzählt die Wissenschaftlerin. Die Werke des berühmten Dramatikers mussten auch für koloniale Ideologien herhalten: Anhand seines Schaffens sollte den kolonisierten Gesellschaften teilweise vermittelt werden, wie eine aus europäischer Sicht „perfekte, zivilisierte“ Literatur auszusehen hat.
Die Verwendung der englischen Sprache und europäischer Literaturtraditionen ist in manchen Teilen des ehemaligen British Empire bis heute umstritten. Es bildeten sich jedoch schnell neue, wiederum hoch politische literarische Bewegungen aus den britischen Kolonien heraus.
Viele postkoloniale Autorinnen und Autoren setzten sich bewusst von europäischen Traditionen ab, schufen zum Teil ganz neue literarische Formen. Kirsten Sandrock untersucht diese Prozesse. Dabei hat sie speziell Kanada im Blick, ebenso Indien: „Die englische Literatur- und Kulturwissenschaft hier in Würzburg unterhält eine enge Kooperation mit zwei Universitäten in Delhi, da möchte ich mich gerne einbringen.“
Nach dem Studium die Promotion in Marburg
Kirsten Sandrock, Jahrgang 1979, ist in der Nähe von Kassel aufgewachsen. An den Universitäten Marburg und Newcastle (UK) studierte sie Englisch und Deutsch für das Gymnasiallehramt. Das Erste Staatsexamen absolvierte sie 2005.
Danach schlug sie eine universitäre Karriere ein: Als Doktorandin befasste sie sich an den Universitäten Marburg und New Brunswick (Kanada) mit zeitgenössischer kanadischer Literatur. Ein Jahr lang forschte sie mit einem „Government of Canada Award“ in Kanada; die Promotion schloss sie 2008 ab.
Literatur, Kultur, Politik und Macht
In der Promotionszeit schälte sich ein weiterer Arbeitsschwerpunkt der Wissenschaftlerin heraus: die Verbindungslinien zwischen Literatur, Kultur, Politik und Macht.
Diese Linien werden zum Beispiel bei der kanadischen Schriftstellerin Margaret Atwood deutlich. In deren Dystopie The Handmaid’s Tale (Der Report der Magd) etabliert eine christlich-fundamentalistische Bewegung eine religiöse Diktatur in den USA. Frauen werden weitgehend entrechtet und als Gebärmaschinen benutzt, weil viele Menschen durch die Verseuchung der Umwelt unfruchtbar geworden sind. „Margaret Atwood hat frühzeitig Tendenzen des Fundamentalismus aufgegriffen und in ihren Werken zu Dystopien weiterverarbeitet. Alles, was sie schreibt, ist hoch politisch“, sagt Kirsten Sandrock.
Reiseliteratur über die schottischen Kolonien
Nach der Promotion trat die Anglistin eine Habilitationsstelle an der Universität Göttingen an. Dort arbeitete sie über frühneuzeitliche Reiseliteratur. Sie konzentrierte sich auf schottische Reiseliteratur der Jahre 1603 bis 1707 und deren Verknüpfungen zur globalen Kolonialliteratur der frühen Neuzeit.
„Schottland wollte damals mit England und anderen europäischen Kolonialmächten gleichziehen und versuchte, drei eigene Kolonien zu gründen, im heutigen Nova Scotia, East New Jersey und in Panama“, sagt die Professorin. Wie wurden die Kolonien und das Leben dort in der Literatur dargestellt? Reichlich beschönigend, wenn nicht gar utopisch, wie Kirsten Sandrock herausfand: „Auf diese Weise wurde versucht, die Menschen für das Leben in den Kolonien zu gewinnen. Die Autoren schilderten alles in den schönsten Farben, waren aber zum Teil selbst nie vor Ort gewesen.“
Nach der Habilitation 2018 übernahm Kirsten Sandrock Gastprofessuren an den Universitäten Wien, Leipzig, Freiburg und Tübingen. Mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft forschte sie zudem an der Saint Mary’s University in Halifax (Kanada). Zum 1. April 2023 folgte sie dem Ruf auf die JMU. Sie tritt hier die Nachfolge von Isabel Karremann an, die an die Universität Zürich gewechselt ist.
Kontakt
Prof. Dr. Kirsten Sandrock, Lehrstuhl für englische Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Würzburg, T +49 931 31-86711, kirsten.sandrock@uni-wuerzburg.de
aus: einBLICK vom 16.05.2023