Studentische Exkursion nach Brüssel
20.10.2022Unter dem Thema "Belgien: Comics und die koloniale Vergangenheit" fand vom 03. bis 06.09.2022 eine Exkursion von romanistischen Student*innen und Dozent*innen nach Brüssel statt.
Belgien gilt als Zentrum der Comic-Kultur und blickt auf eine bewegte Kolonialgeschichte zurück. Inwiefern diese beiden Charakteristika in Brüssel, der Hauptstadt der Europäischen Union, aufeinandertreffen, war Thema der studentischen Exkursion im Rahmen eines Proseminars zur "Inszenierung von Mündlichkeit in französischen bande dessinées". Geleitet wurde die viertägige Studienreise von Dr. Stefanie Goldschmitt, Akademische Rätin am Lehrstuhl für Romanische Sprachwissenschaft, und Dr. Julien Bobineau, bis 30.09.2022 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Französische und Italienische Literaturwissenschaft.
Die neunte Kunst, also Comics bzw. bandes dessinnées (BD), sind aus der französischsprachigen Kultur nicht wegzudenken. Insbesondere die Sprache der Comic-Held*innen ist im 21. Jahrhundert verstärkt in den Fokus sprachwissenschaftlicher Studien gerückt, da sie sich häufig durch inszenierte Elemente der gesprochenen Sprache auszeichnet. Dies zeigt sich auf den einzelnen sprachlichen Ebenen in unterschiedlicher Ausprägung. Während der ersten Seminarsitzungen äußersten die Kursteilnehmer*innen den Wunsch, die originalen BDs in ihrer Diversität kennenzulernen, um nicht nur die sprachliche Gestaltung kritisch bewerten zu können, sondern auch einen Einblick in die thematische Vielfalt zu erhalten.
Die Wahl fiel auf Brüssel, da die Comic-Metropole sowohl das Musée de la BD de Bruxelles, das über 6.000 bandes dessinées im Original archiviert, als auch das Musée Hergé in Louvain-la-Neuve, das dem weltbekannten Comic-Zeichner Hergé gewidmet ist. Seine BD Tintin au Congo sorgte in den letzten Jahrzehnten für Kontroversen in Wissenschaft und im Feuilleton, da das Werk aus heutiger Sicht als kolonialrassistisch bewertet wird, was auch Dr. Julien Bobineau in seiner Dissertation wissenschaftlich bearbeitet hat: Die kolonisierten Bewohner*innen des Kongo werden durch fehlerhaft dargestellte Sprache, Nacktheit und exotisierende Zuschreibungen von 'Unzivilisiertheit' inferiorisiert und kolonial abgewertet. Auch wenn Hergés Darstellung der belgischen Kolonien in Subsahara-Afrika dem damals dominierenden Zeitgeist entspricht, liegt der von ihm gewählten Konzeption von Tintin au Congo keine Reise in die Kolonie am Kongo-Fluss zugrunde, sondern ein Besuch des nahegelegenen Musée Royal de l’Afrique Centrale (heute: AfricaMuseum) im Brüsseler Vorort Tervuren. Ein solcher Umstand führt zur berechtigten Frage, welchen Einfluss die Darstellung Afrikas im Allgemeinen und des Kongo im Besonderen auf das künstlerische Werk von Hergé zuzuschreiben ist.
Diese Frage lag neben weiteren im Fokus der Exkursion, die insgesamt fünf Studierende in Zusammenarbeit mit Bobineau und Goldschmitt planten. Auf dem Programm stand neben dem Besuch der beiden oben genannten Comic-Museen sowie dem AfricaMuseum auch eine Stadtführung durch das historische Zentrum von Brüssel, die wiederum die engen Bezüge der Stadt zur Comic-Kultur sowie zur kolonialen Vergangenheit Belgiens untermauerte.
Die Fahrt stieß bei den Studierenden auf große Begeisterung, nicht zuletzt, da nach zwei Jahren vorwiegend Online-Studium im Zuge der Pandemie eine Exkursion ins Ausland einen besonderen Mehrwert darstellt. Der Blick auf Studieninhalte wurde geschärft und theoretisches Wissen aktuell und lebendig gemacht. Die Studienreise ermöglichte es zum einen, ausgehend von dem mit Stefanie Goldschmitt im sprachwissenschaftlichen Proseminar erarbeiteten Wissen zu den Analysemodellen der Varietätenlinguistik und den phonetischen, morphosyntaktischen und pragmatischen Besonderheiten der Sprache in französischen BDs nachzuvollziehen, auf welche Weise in den Comics Mündlichkeit inszeniert wird. Zum anderen wurde ein Einblick in die thematische Vielfalt der bande dessinée, die neben den klassischen Werken auch politische, satirische und erotische umfasst, gegeben. "Mich hat vor allem überrascht, wie tief BDs in der belgischen bzw. frankophonen Kultur verankert sind. Neben zahlreichen Comic-Museen gibt es auch in jeder Buchhandlung einen großen Bereich zu Comics, graphic novels oder Mangas. In diversen Geschäften werden comicspezifische Waren angeboten und sogar große Hausfassaden zeigen Comic-Illustrationen", fasst Eva Anheier, die Deutsch und Französisch auf Lehramt studiert, ihre Eindrücke zusammen. Überrascht habe sie vor allem, dass die BDs nicht nur zu Unterhaltungszwecken gelesen, sondern auch für die Wissensvermittlung im geschichtlichen und politischen Bereich genutzt werden.
Im Verlauf der Exkursion wurde zudem die kritische und v. a. multiperspektivische Auseinandersetzung mit der Kolonialvergangenheit in Afrika und ihre weitreichenden Auswirkungen auf die europäische Kultur thematisiert und das problemorientierte Geschichtsbewusstsein der teilnehmenden Studierenden aktiv gefördert. Elias Lichtenstern, Student für Deutsch und Französisch auf Lehramt, resümiert, dass ihn insbesondere das AfricaMuseum nachdrücklich beeindruckt habe, was vor allem der kritischen Hermeneutik, die Julien Bobineau den Studierenden durch sein fundiertes Wissen nahegelegt hat, geschuldet war. "Er hat uns dazu angeregt, kritischer über die Kolonialgeschichte Belgiens, aber auch die anderer Länder nachzudenken", ergänzt er. Auch die übrigen Museen stießen durchweg auf großes Interesse, wobei gerade interaktive Möglichkeiten wie ein Audio-Guide im Hergé-Museum oder sprachwissenschaftliche Informationen in Form von digitalen Spielen zu den Bantu-Sprachen im AfricaMuseum positiv bewertet wurden.