Programm
19. Symposium des Mediävistenverbandes in Würzburg, 05.–08.03.2023
Normen und Ideale
Jede Kultur kennt Regularien, die in unterschiedlicher Verbindlichkeit das Zusammenleben ordnen. Ihren Ausdruck finden sie in den verschiedensten Medien, in religiösen und in Gesetzestexten, aber auch in der Bildenden Kunst, in der Literatur, im philosophischen Diskurs. Die Bandbreite reicht von religiösen, kirchlichen und weltlichen Gesetzestexten über Verhaltensnormen (etwa Tugendkataloge) und Vorstellungen vom guten Leben bis zu Vorstellungen etwa des idealen Königs oder des "idealen Schönen". Für alle Arten von Kunst gilt, dass sich die Autoren an Wertmaßstäben orientieren, diese bestätigen und gegebenenfalls auch zur Diskussion stellen.
Solche Regularien und Wertmaßstäbe schlagen sich in Verhaltensnormen nieder, die Verstöße gegen das erwartete Verhalten verhindern sollen und diese mit Sanktionen belegen. Die normgebenden Instanzen sind vielfältig und oft in ihrem Ursprung nicht zu fassen. Religiöse Normen berufen sich auf den göttlichen Willen, wie er in den heiligen Schriften festgehalten oder von autorisierten Personen aus diesen hergeleitet wird. Soziale Normen sind das Ergebnis langer gesellschaftlicher Entwicklungen. Juristisch relevante Normen als ein Bereich sozialer Regeln beschreiben Verhaltenserwartungen, die in einer gegebenen Gesellschaft zur Konfliktlösung oder Konfliktvermeidung herangezogen werden. Ästhetische Normen können als ein weiterer Bereich der gesellschaftlichen Regeln angesehen werden. Ihre Herausbildung und Veränderung hängt auch von regionalen Gegebenheiten ab, die Einbindung in einen liturgischen Kontext beeinflusst sie ebenso wie die Verwendung bestimmter Materialien in bestimmten Epochen.
Der religiöse und der umfassende gesellschaftliche Bereich sind dabei mit Blick auf die Normen eng verwoben, aber in ihren Vertretern unterschieden. Verstöße gegen religiöse Normen werden letztlich im Jenseits geahndet, Vertreter des religiösen Rechts können aber auch irdische Strafen aussprechen. Normverstöße außerhalb des religiösen Bereichs unterliegen der sozialen Kontrolle und Sanktion, in definierten Fällen der juristischen Be- oder Verurteilung. Dabei gehen weltliche und kirchliche Normsetzungen ineinander über.
Für jede Art von normativen Setzungen gilt, dass sie jeweils das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungen sind und einem ständigen – wenn auch unterschiedlich schnellen – Wandel unterworfen sind. Normen können sich langsam, nahezu unmerklich ändern, sie können aber auch in einem Moment durch Gesetzgeber, Richter oder Rechtsgelehrte neu gefasst werden. Sofern es sich um Normen handelt, die auf Heilige Schriften zurückgehen, seien es Koran, Hebräische Bibel oder Neues Testament, geht es eher um Neuinterpretationen vorhandener Gesetzestexte, die man, da von Gott gesetzt, nicht als verhandelbar ansah, aber eben unter Umständen flexibel auslegte.
Normen schreiben das fest, was jedes Mitglied einer gegebenen Gesellschaft in der jeweiligen Zeit einzuhalten hat. Ideale sind demgegenüber abstrakter, weiter gefasst. Sie beschreiben Verhaltensweisen oder Ziele, die anzustreben, aber allenfalls vereinzelt erreicht werden können. Die Schönheit der Kunst oder die Freigiebigkeit bzw. Philanthropie des Herrschers sind solche Ideale, die nicht durch genaue Definitionen oder Sanktionen gefasst werden, aber dennoch wirkmächtig sind.
Vier Betrachtungsebenen sollen diskutiert werden:
- Synchron: Die verschiedenen Wissensbereiche rekurrieren auf dieselben Normen und Idealvorstellungen, formulieren sie aber in ihrem je eigenen Medium. Zu fragen ist, wie dies geschieht, ob es Unterschiede in der konkreten Darstellung innerhalb eines Mediums gibt, werden sie (in den sprachlichen) Medien diskursiv oder narrativ entfaltet? Wie sehen die Bezüge zwischen den unterschiedlichen Medien und Texten aus? Ein zentraler Aspekt ist die 'Diskurshoheit', die Frage danach, wer mit welcher Verbindlichkeit über Normen und Ideale einer gegebenen Gesellschaft 'reden' darf, ebenso die Frage, ob solche Werte absolut gesetzt werden oder verhandelbar sind. Können Normen und Idealen, z. B. dem Ideal der herrscherlichen largitas, Grenzen gesetzt werden? Kollidieren solche Idealvorstellungen mit anderen, im Beispiel die largitas mit der Mäßigung? Wie werden solche Normkonflikte dargestellt und ausgehandelt?
- Diachron 1: Begriffe, die für Normen und Werte verwendet werden, reichen oft weit in die Vergangenheit zurück. Es ist davon auszugehen, dass sich die Bedeutung der Begriffe und die mit ihnen verbundenen Konnotationen im Lauf der Zeit oder auch durch die Rezeption in unterschiedlichen Kontexten geändert haben oder sogar umgedeutet wurden. Wie verlief diese Entwicklung? Wie haben sich die Inhalte trotz gleichbleibender Bezeichnung verändert? Beispiele dafür sind etwa die Tugenden oder auch die Übernahme des römischen Rechts in seinen unterschiedlichen Ausformungen. Neben dem begriffsgeschichtlichen Aspekt wäre hier auch zu fragen, wie sich ein verändertes Verständnis eines alten Begriffs etwa auf die Rezeption älterer Dokumente auswirkt. Die Rezeption des römischen Rechts etwa brachte die Übernahme sämtlicher in der Antike entwickelter Rechtsbegriffe mit sich, doch wurden diese unter den veränderten sozialen und religiösen Vorstellungen des Mittelalters mit neuen Inhalten gefüllt.
- Diachron 2: Wie werden mittelalterliche Normen und Ideale in späteren Jahrhunderten – gerade auch im wissenschaftlichen Diskurs – rezipiert? Wie werden sie geformt und benutzt? In der europäischen Rezeption des Mittelalters, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, werden immer wieder 'typisch mittelalterliche' Werte propagiert. Die Beweggründe dafür sind unterschiedlichster Natur, es kann darum gehen, die Epoche negativ abzugrenzen, aber auch darum, sich der 'mittelalterlichen' Werte als Projektionsfläche zu bedienen. Gefragt ist also ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte am Beispiel von Normen und Idealen, wie sie in mittelalterlichen Quellen dargestellt und von der späteren Wissenschaft rezipiert werden. Durch den Kolonialismus hat sich in den kolonisierten Gebieten ein Bruch ergeben, hinsichtlich der Kontinuität der eigenen Normen und dem Blick auf das eigene Mittelalter, das durch die europäische Brille, die die Kolonialherren den kolonisierten Völkern aufsetzten, immer defizitär gegenüber der europäischen Entwicklung erscheinen musste. Damit ergab sich ein Unbehagen mit der eigenen Vergangenheit, die irgendwo den Grundstock für die empfundene Unterlegenheit gelegt hatte. Der europäische Blick zurück im 19. Jahrhundert erlangte Deutungshoheit; gibt es Ansätze, diese Einschränkung zu überwinden? Ebenso wäre zu fragen, welche Normen und Ideale nicht rezipiert werden und ob es dafür Grunde gibt.
- Komparatistisch: Normen und Werte unterscheiden sich in den verschiedenen Kulturräumen, sie sind in unterschiedlicher Weise in der jeweiligen Gesellschaft verankert. Eine vergleichende Untersuchung könnte das Zusammenspiel von Normen und Idealen auf der einen sowie religiösen Vorschriften und dem Status von Gesetzen auf der anderen Seite schärfer fassen.